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Caracas TVe
Raul Zelik (Text)
Bitter/Weber (Bild)
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10.-14. April 2003, "Weltsolidaritätsforum mit der bolivarianischen Revolution". Auf dem Weg zum Konferenzsaal Teatro Teresa Careño. Vom Caracas Hilton führt eine Fußgängerbrücke über eine Abfahrt der Stadtautobahn. Am Fuß der Überquerung scharen sich die Devotionalienhändler. Ich suche das Ende der Schlange und treffe auf zwei Deutsche: Dreadlocks und Nasenringe. Sie machen eine Bemerkung über die Fahnen - alles blau-rot-gelb. Haben die hier einen in der Nationalwaffel? Ich muss zugeben, dass mir das bisher nicht richtig aufgefallen ist. Langsam bewegt sich die Menge vorwärts. Wir steigen in eine Vorhalle hinab, ein großer, nach außen offener, von Betonpfeilern strkturierter Raum, werden kontrolliert - es heißt, der Präsident werde kommen - und müssen uns wieder in eine Schlange einreihen. Um uns herum Parolen: Freundeskreise, Schülergruppen, Bauernorganisationen.
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Jemand hat einen Kassettenrecorder dabei, es läuft der Salsa-HipHop-Song Uh, ah, Chávez no se va, offizielle Erkennungsmelodie der Regierungsanhänger. Die Leute halten ihre Wimpel hoch. Fahnen, Käppis, Strandhüte, Abzeichen. Ein ganzes Meer aus blau-rot-gelb mit sieben Sternen. Stadionatmosphäre - allerdings entspannt. Es lebe Venezuela, die nationale Souveränität, die Säulen der Revolution Simón Bolívar, Simón Rodríguez und Ezequiel Zamora, das große lateinamerikanische Vaterland, unsere Identität. Ich muss noch einmal zugeben: Das alles ist mir bisher nicht weiter aufgefallen. Obwohl es nicht zu übersehen ist.
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Wir werden durch den Metalldetektor geschleust. Gestern ist man ohne Kontrolle hereingekommen, obwohl Chávez da auch im Saal war. Die Sicherheitsregeln werden je nach Nachrichtenlage gehandhabt - wobei man darauf hinweisen muss, dass die rechte Opposition den Präsidenten wirklich mit allen Mitteln beseitigen will. Nachdem es mit dem Putsch vor einem Jahr und der Sabotage der Erdölindustrie zur Jahreswende nicht geklappt hat, würde ein Anschlag niemanden überraschen. Immerhin hält man Chávez in den Mittel- und Oberschichtsvierteln von Caracas nicht nur für einen Castro-Kommunisten, sondern sogar für den leibhaftigen Antichristen(1). |
Wir fahren eine Kongress-Center-Rolltreppe Richtung Kongress-Center-Foyer hinauf und werden von Kongress-Center-Personal in den Konferenzsaal geführt. Blaue Stoffsitze, sehr bequem. Auf der Rückseite der Bühne schwere, dunkle Vorhänge, davor allerlei tropische Pflanzen, ein Rednerpult, Blumen, das Transparent der Veranstaltung. Was für ein Transparent! General Bolívar, umgeben von gestikulierenden Männern - einige von ihnen Bürger, andere scheinbar Sklaven, allerdings merkwürdigerweise fast weiß -, den Blick nach rechts oben gerichtet. Im Hintergrund ein bedeutungsschwangerer Himmel: aufbrechende Wolkendecke, Lichtkranz. In der rechten unteren Bildecke zwei Frauen, man sieht sie erst auf den zweiten Blick. Sie sind zur Hälfte abgeschnitten, ihre Körper ragen hilferufend, wehrlos (oder lüstern?) ins Bild hinein.
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Tariq Ali tritt ans Rednerpult . Der in Lahore geborene, britische Schriftsteller spricht über Fundamentalismus. Das heißt, er spricht über die Regierung Bush, die langjährige US-Unterstützung für das Hüssein-Regime und die anderen Diktaturen in der Region: Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien. Darüber dass Bush ein Idiot sei, aber auch Reagan als Idiot gegolten habe - ein Idiot, der von Leuten umgeben war, die sehr genau wussten, was sie taten. Ich kenne Tariq Ali v. a. durch seine Romane und die Artikel im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Die Texte gefallen mir: präzis, polemisch, an den entscheidenden Stellen nicht undifferenziert. Ali erzählt vom 11. April vor einem Jahr. Er sei in den USA auf einem Sozialisten-Treffen gewesen. Als sie von Chávez Sturz hörten, seien alle sehr deprimiert gewesen. Doch als zwei Tage später Nachrichten von der Niederschlagung des Putsches zu ihnen drangen, hätten die Teilnehmer des Treffens gefeiert. Weil Venezuela das Beste ist, was uns in den vergangenen 20 Jahren passiert ist. Tariq Ali hebt beschwörend die Hand, die Leute in meiner Sitzreihe - Bauern aus Trujillo, Studenten von ATTAC, Taxifahrer, Straßenhändler, Hausfrauen, ein Rockstar - springen auf und klatschen. Einige Leute neben mir ziehen kleine, blaue Bücher aus der Tasche und recken sie in die Luft. Es lebe unsere Verfassung!, schreit jemand.
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Doch auf der Plaza Francia will man das nicht wahrhaben. Man will nicht daran erinnert werden, dass Chávez erst vor 2 Jahren mit großer Mehrheit im Amt bestätigt worden ist und die Verfassung die Möglichkeit eines Abwahlreferendums im August vorsieht. Man will nicht sehen, dass es Hunderttausende von Demonstranten aus den Slums waren, die Chávez nach dem Putschversuch im April 2002 wieder an die Macht brachten. Ja, man will nicht mal akzeptieren, wer in diesem Land wirtschaftlich benachteiligt ist. Als Protestform hat die Opposition ausgerechnet den Cacerolazo gewählt, das Schlagen auf leere Kochtöpfe. Menschen, die oft nicht mal selbst kochen, weil sie Bedienstete dafür haben, imaginieren sich als Hungeropfer.
Ich erzähle Ana, einer Bekannten, dass ich ins Viertel 23 de Enero fahre. Sie verzieht das Gesicht - dabei kündige ich es an, als wäre es eine Expedition und nicht einfach nur eine U-Bahnfahrt. Das ist zu gefährlich, sagt sie. Da verstecken sich die Drogenhändler, die Guerilleros, die Rebellen aus Kolumbien. Lauter bewaffnete Gruppen. Ich denke, dass es in meiner Mittelstands-Residencia vor Bewaffneten wimmelt. Doch es hat keinen Sinn, Ana das zu erklären. Sie würde nicht verstehen, dass man auch solche Bewaffneten als Gefahr empfinden kann.
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